"2101" und weitere Projekte

2101

SF-Thriller

Unsere Welt in 90 Jahren: Schwindende Erdölvorräte haben zusammen mit einem dramatischen Klimawandel weltweit zu schweren Wirtschaftskrisen geführt und in den wieder verarmten arabischen Ländern einen neuen fundamentalistischen Terrorismus entstehen lassen. Als Gegenreaktion verstärkten die westlichen Staaten Überwachung und Kontrollen – unter anderem mit einem dichten Netz von GPS-Satelliten, die abrufbare Fotos in Echtzeit von allen bewohnten Teilen der Welt liefern.

 Die Fortschritte der Gentechnologie zeitigen Folgen: Staatliche und kommerzielle Gen-Datenbanken enthalten die Erbgutinformationen von mehr als einer Milliarden Menschen. Für vermögende Ehepaare stehen Reproduktionskliniken bereit, in denen Kinder mit besonderen genetischen Eigenschaften ausgetragen werden. In legalen Organspenderfarmen werden Menschen ge-klont und als Ersatzteile gezüchtet, in illegalen für kriminelle Zwecke aufgezogen.

Vor diesem Hintergrund erzählt der Thriller die Geschichte mehrerer Frauen, die auf einer Segeljacht leben. Wegen der Energieknappheit ist es zu einer Renaissance schneller Segelschiffe gekommen, was den Frauen ermöglicht, ihren Lebensunterhalt mit Transportaufträgen, aber auch mit dem Schmuggel von Flüchtlingen und geheimen Dokumenten zu verdienen.

Die Frauen stammen aus verschiedenen Regionen der Welt und haben sich aus unterschiedlichen Gründen auf das Schiff zurückgezogen. Die Hauptperson des Romans, Solveig Solness, wurde mit drei Jahren in eine illegale Organspenderfarm verschleppt und dort mit anderen Kindern, die geklont wurden und keine Erinnerung an Eltern besitzen, paramilitärisch aufgezogen. Im Lauf der Jahre wurde sie zur Auftragskillerin ausgebildet und mehreren nanotechnologischen Operationen unterzogen. Aber die Erinnerungen an ihre Eltern geben ihr Halt, und als sie im Alter von siebzehn Jahren ihren ersten Mordauftrag durchführen soll, gelingt es ihr zu entfliehen. Seitdem sucht sie herauszufinden, wer ihre Eltern waren und ob sie noch leben, wer sie in die Organspenderfarm gebracht hat und welche Organisation im Hintergrund die Fäden zieht.

Nach einem zwielichtigen Auftrag gerät die Mannschaft der Segeljacht ins Visier der europäischen Antiterroragentur ATA, und im Verlauf der Handlung lassen sich Solveig sowie zwei weitere Frauen anwerben, um als Undercover-Agenten in das Netz einer islamischen Terrororganisation eingeschleust zu werden, die sich „Söhne Bin Ladens“ nennt und eine Anschlagserie plant, deren Ziel die Zerstörung Londons ist. Solveig verfolgt aber ihre eigenen Pläne, beginnt eine Liebesaffäre mit ihrem ATA-Führungsoffizier und sucht weiter nach Informationen über ihre Eltern und die Organisation, die Menschen für kriminelle Zwecke züchtet.

In parallelen Handlungssträngen wird ein labyrinthisches Bild der Welt am Ende unseres Jahrhunderts entworfen, und der Leser begegnet einer Fülle abgründiger Personen an ungewöhnlichen Schauplätzen wie einem unterirdischen Labyrinth bei Bonn, einem Ausbildungslager in der Arabischen Wüste, einer menschenleeren, verseuchten Todeszone in Sibirien oder den Inseln Raiatea und Myrrha.

Gegen Ende des Romans laufen die verschiedenen Handlungsstränge in London zusammen und steuern auf einen einzigen Tag zu: den 11. Sept. 2101. Während der fieberhaften Suche nach den Terroristen und einer von ihnen versteckten Atombombe werden in Rückblenden heikle Abschnitte aus Solveigs Leben und die Ergebnisse ihrer Nachforschungen enthüllt, in denen sie auf Verbindungen ihrer Eltern, einem Wissenschaftler-Ehepaar, mit der Organisation, die sie entführte, gestoßen ist.

Ob es gelingt, den Anschlag in London zu vereiteln, bleibt bis zum Schluss offen.

Erschienen 2011. ISBN 978-3-8391-8043-3. BoD Norderstedt

 

Leseprobe aus 2101

 

1

Im Archipel der Islamisch-Sunnitischen Föderation

 

The Boston Globe, 10. Sept. 2100: Nach den letzten Messungen in Halifax und anderen Stationen steigt der Meeresspiegel an der nordamerikanischen Atlantikküste und im Golf von Mexiko weiterhin zwischen zwei und drei Zentimetern pro Jahr. In den vergangenen einhundert Jahren hat er sich insgesamt um zwei Meter erhöht. In einem Treffen mit den Gouverneuren von South Carolina, Georgia, Louisiana und Texas hat Präsident Olmoz neue Maßnahmen zum Schutz der gefährdeten Küstenzonen angekündigt.

 

Als die Jacht Amiramis durch den Archipel der Islamisch-Sunnitischen Föderation segelte, war der Taifun, der hier mehrere Tage gewütet hatte, weitergezogen, und das in dieser Gegend oft trügerische Meer zeigte sich von seiner heiteren Seite. Ein stetiger Wind von achtern versah die Wogenkämme fast spielerisch mit kleinen Schaumkronen. Er sorgte auch dafür, dass die Amiramis, die etwa achthundert Quadratmeter Segelfläche gesetzt hatte, die Wellengipfel mit einer Geschwindigkeit von über vierzig Stundenkilometern durchschnitt und einen glänzenden Kielwasserschweif zurückließ.

Am Steuer der Jacht stand eine junge Frau, sie beobachtete den nahezu wolkenlosen Horizont und das Land, das vor einer Stunde aufgetaucht war. Sie war eine von sieben Frauen, die die Mannschaft der Amiramis bildeten und die der Zufall zusammengeführt hatte. Zwar waren sie in derselben Zusammensetzung seit etwa zwei Jahren auf dem Schiff, aber da die Frauen aus unterschiedlichsten Gründen angemustert hatten, war es völlig ungewiss, wie lange sie als Gruppe zusammenbleiben würden. Auf jeden Fall heuerte die Schiffseignerin Medea Phasias stets Frauen und zwar nur solche, denen sie zutraute, dass sie den Gefahren und Widrigkeiten langer Seereisen auf den Meeren der Welt gewachsen sein würden. Männer ließ sie nur in Ausnahmefällen an Bord – als Crewmitglieder kamen Männer für sie schon gar nicht in Frage.

Ihren Geschäften ging die Schiffseignerin schon eine Reihe von Jahren nach und hatte sich inzwischen den Ruf hoher Zuverlässigkeit und Verschwiegenheit erworben. Sie transportierte Waren, ohne ihre Auftraggeber zu fragen, was sie transportierte. Seitdem auch Optimisten einräumen mussten, dass die Erdölvorräte zur Neige gingen, fossiler Treibstoff zu einem teuren Luxusprodukt geworden war und neuer auch durch Wirtschaftskrisen entfachter Terrorismus zu schärfsten Sicherheits- und Gepäckkontrollen im Flugverkehr geführt hatte, war es zu einer Renaissance schneller Segelschiffe gekommen, und zahlungskräftige Kunden schätzten es sehr, wenn Waren ohne Zollkontrollen und Papiere von A nach B befördert werden konnten. Vor allem aber transportierte Medea Informationen und Datensätze: Briefe, Geschäftsprotokolle, Kartellabsprachen, Patente und andere Unterlagen, deren elektronische Übermittlung Absender und Empfänger nicht riskieren wollten, weil die fast lückenlose Überwachung aller Sendungen im zwischenstaatlichen Verkehr durch Zollbehörden und Geheimdienste das Postgeheimnis ausgehöhlt und der Wirtschaftsspionage Tür und Tor geöffnet hatte.

Die junge Frau im Heck der Jacht hatte kurzgeschnittene blonde Haare und war großgewachsen. Hinter dem Steuer stand sie nur zu ihrem Vergnügen, das Geschäft der Schiffsführung hätte auch der Avatar der Amiramis, der in Bereitschaftsstellung auf Befehle wartete, allein besorgen können. Sie stand hinter dem Steuer, weil sie schnelles Segeln auf offenem Meer als schön empfand, was vielleicht darauf zurückzuführen war, dass sie aus ihrer frühesten Kindheit die Erinnerung an Segelschiffe, die unter blauem Himmel dahinzogen, bewahrt und jahrelang davon geträumt hatte, auf einem Segelschiff in die Ferne zu fahren. Die Liebe zum Meer, der weite nicht von Mauern, Häusern und Masten der Überwachungskameras verstellte Blick zum Horizont, der Geschmack der salzigen Luft und das nicht von Explosionen und Polizeisirenen gestörte Rauschen der Wellen, kurz das unvergleichliche Freiheitsgefühl war wahrscheinlich das geheime Band, das die sieben Frauen trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft und Erwartungen an die Zukunft zusammenhielt.

Die Frau am Steuer besaß einen auf den Namen Sonja Miller ausgestellten australischen Pass, war aber davon überzeugt, Solveig Synn Solness zu heißen, und ließ sich von ihren Gefährtinnen nur mit ihrem Vornamen Solveig anreden. Ihre Gesichtszüge waren weich und mädchenhaft, was Männer verleitete, sie entweder beschützen und verführen zu wollen oder als Geschäftspartnerin nicht ernst zu nehmen. Diese Beurteilung durch Männer kam ihr sehr zupass; sie zog es vor, unterschätzt zu werden, weil aus Unterschätzung Leichtsinn entstand, den sie, wenn es die Situation erforderte, auszunutzen verstand. Wenn sie mit Männern zu tun hatte, vermittelte sie den Eindruck leichter Unsicherheit, vermied lange Blickkontakte und verzichtete auf Direktheit im Gespräch. Lebenserfahrene Männer spürten manchmal einen Hauch von Doppelbödigkeit in ihrer Argumentation und von absichtlicher Zerstreutheit in ihren Gesten, stutzten einen Moment, trauten dann aber der jungen Frau, die keine Zeichen von Koketterie zeigte, diese Raffinesse, Unerreichbarkeit mit Schutzbedürftigkeit bewusst zu mischen, doch nicht zu, zumal sie auch mit ihrer Kleidung auf offene erotische Signale verzichtete. Hatte sie dennoch den männlichen Verführungsinstinkt zu stark entzündet, so wusste sie sich ihrer Haut zu wehren – bis auf die Fälle, wo die Natur ihr Recht auf Lust einforderte.

Ab und zu wandte Solveig ihren Blick vom Horizont ab und sah auf das Vordeck der Jacht. Ausgestreckt auf dem Boden lag dort eine Afrikanerin mit dem schmalen Gesicht einer Massai. Sanabu Zuri hatte ihre Kindheit und Jugend in Höhen von zwei- bis viertausend Metern an den Hängen des Kilimandscharo zugebracht. Nach der Tradition ihrer Familie – und dadurch begünstigt, dass sie proportional längere Oberschenkel als andere Frauen besaß – war sie eine ausdauernde und schnelle Läuferin geworden. Nachdem sie sich der Gruppe auf der Jacht angeschlossen hatte, begann sie, da sie das Laufen vermisste, zu schwimmen. Bald entwickelte sie eine große Vorliebe für das Wasser und verbrachte, wenn die Reisegeschwindigkeit der Jacht es zuließ, mehrere Stunden am Tag im Meer.

Neben ihr saß im Schatten des Focksegels eine andere junge Frau selbstversunken in Jogastellung auf den Planken und betrachtete einen Hologrammprojektor, der einen dreidimensionalen Stadtplan zeigte. Sie prägte sich Straßenkreuzungen, auffällige Gebäude und die Entfernungen zwischen ihnen ein. Auf bestimmten Straßenabschnitten ließ sie ein Simulacrum die Strecke abgehen und stoppte dann die Zeit. Das war ihre Methode, sich auf eine neue Aufgabe vorzubereiten. Zwischendurch schloss sie ihre Augen und verfolgte in Gedanken den Weg des Simulacrums. Dabei schweiften ihre Gedanken aber auch ab – sie war die einzige Frau an Bord der Amiramis, die verheiratet war und ein Kind hatte. Ihr Name war Wejra Pokahontas Quechua, aber alle nannten sie nur Pokahontas oder kürzer Kao. Sie stammte aus Peru und hatte, wie man an ihrer Gesichtsform, ihrer langen Nase, ihren blauschwarzen Haaren und ihrer Hautfarbe deutlich erkennen konnte, indianische Vorfahren.

Während Sanabu Zuri sich der Crew aus Abenteuerlust angeschlossen hatte, hatte es Pokahontas hauptsächlich des Geldes wegen getan, und sie war auch die einzige der Frauen, die fest entschlossen war, nach dem Ende dieser Reise zu ihrer Familie zurückzukehren. Dass irgendwo auf der Welt ein Mann und ein Kind auf sie warteten, hatte sie niemandem erzählt. Zu den ungeschriebenen Gesetzen Medeas gehörte nämlich, dass sich die Frauen untereinander nicht über ihr Vorleben austauschten.

Nach dem Auftauchen des Landes am Horizont hatte Solveig den Avatar beauftragt, das Positionssystem der Amiramis einzuschalten und alle Schiffsbewegungen im Umkreis von vierzig Kilometern zu beobachten. Aus den Positionsdaten des Satelliten und der Geschwindigkeit der Amiramis errechnete der Avatar, dass die Jacht gegen Abend den Zielhafen auf der Rückseite der sichelförmigen Insel erreichen würde. Danach versetzte er sich wieder in Wartestellung, aus der er sich eine Weile später mit der Nachricht zurückmeldete, von der Küste der Insel habe ein Schiff abgelegt, das voraussichtlich den Kurs der Amiramis kreuzen werde.

Als Solveig dem Avatar den Auftrag gab, den Zeitpunkt der Begegnung zu berechnen, kam die Chinesin Li Yuchan an Deck. Eine ihrer Leidenschaften war das freie Bergsteigen. Um sich auf See fit zu halten, kletterte sie täglich mehrmals bis in die Spitze des vierzig Meter hohen Mastes, wobei sie nur die Hände benutzte und sich nicht mit den Füßen abstützte.

Während die Chinesin sich der Mastspitze entgegenhangelte, beugte sich in der Hauptkajüte eine rothaarige Frau über eine auf dem Tisch ausgebreitete Karte der Inselgruppe. Bregeen Iceni, die alle Bodishia nannten, hätte sich die Karte auf einem Monitor oder auch als Hologramm ansehen können, aber sie zog die altmodische Papierform vor, weil die ihr das Gefühl gab, einen besseren Überblick zu haben, und weil es ihr leichter fiel, Fahrtstrecken und jede Art von Bewegungen auf einer Karte aus Papier zu planen. Bei der Beschaffung gefälschter Ausweispapiere hatte Bregeen ihren Rufnamen nach der keltischen Königin Boadicea gewählt, die in Britannien gegen die Römer gekämpft hatte. In ihren Adern floss tatsächlich keltisches Blut, sie war grünäugig und hatte viele Sommersprossen im Gesicht und auf den Armen.

Bodishia war die Planerin, der strategische Kopf der Gruppe; sie durchdachte den Verlauf einer Aktion, besaß ein Gespür für Schwachpunkte, Hinterhalte und Fallgruben; sie entwickelte für jede Aktion einen Notfallplan und Fluchtwege. Dabei halfen ihr das Schachspiel – sie hatte die Fähigkeit entwickelt, Schach blind zu spielen – und Nora Ronit Dahl. Das Blindspielen wäre nicht erwähnenswert, wenn es sich um das traditionelle Schachspiel auf vierundsechzig Feldern gehandelt hätte. In der Zeit jedoch, in der unsere Geschichte spielt, war das alte Schachspiel aus der Mode gekommen. Jeder Taschencomputer in der Größe einer alten Knopfbatterie hatte die bis ins Mittelspiel ausanalysierten Varianten aller Eröffnungen und mindestens fünfhunderttausend Partien gespeichert. Da niemand kontrollieren konnte, ob ein Spieler den Datensatz in einem Zahn oder sonstwo implantiert hatte, spielte man stattdessen das Fischer-Schach – benannt nach dem amerikanischen Schachweltmeister Bobby Fischer, der es vor über hundert Jahren erfunden hatte –, bei dem die Ausgangsstellung der Figuren vor Spielbeginn nach dem Zufallsprinzip ausgelost wird; Bodishia spielte das Fischer-Schach in der Profiversion: im dreidimensionalen Raum auf fünfhundertzwölf Feldern. Als Sparringspartner stand ihr der Avatar der Jacht zur Verfügung.

Als Partner für die Beurteilung eines Planes und für die Einschätzung der wahrscheinlichsten Aktionen der Gegner diente ihr Nora Ronit Dahl. Auch in diesem Augenblick stand die dunkelhaarige Frau neben ihr und suchte eine Antwort auf die Frage, die Bodishia ausgesprochen hatte: „Wo mag das Versteck sein?“

Trotz ihres nordischen, skandinavisch klingenden Familiennamens hatte Dahl überwiegend jüdische Wurzeln. Aufgewachsen in Südafrika, hatte sie forensische Psychologie, Neurologie und Psychiatrie in Europa studiert, bevor sie eine Laufbahn bei der Polizei in London begann und Täterprofile sowie Gutachten über die Wahrscheinlichkeit der Rückfälligkeit von Strafgefangenen erstellte. Wegen ihrer außergewöhnlichen Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, Gesichtszüge zu lesen und feinste Veränderungen wie die unwillkürliche Erweiterung der Pupille oder die Veränderung der Blickrichtung wahrzunehmen, erkannte sie sofort, ob ein Lächeln echt oder falsch war, ob eine befragte Person bei einer Antwort log oder etwas zu verbergen hatte. Bei einigen spektakulären Verbrechen hatte sie detaillierte Verhaltensprofile erstellt und die Wahrscheinlichkeiten der zu erwartenden Handlungen von Tätern zutreffend eingeschätzt.

Während Bodishia und Ronit sich über die Karte beugten und diskutierten, hantierte die Schiffseignerin mit mikrochirurgischen Instrumenten in einem Raum, der die Kombüse hieß, aber oft für ganz andere Zwecke benutzt wurde. Medea hatte ein klares und ebenmäßiges Gesicht mit griechischem Profil. Über einem nicht sehr breiten Mund mit vollen Lippen ging ihre lange, gerade Nase fast ohne merkliche Vertiefung an der Wurzel in die geschwungenen Augenbrauen über. Ihre großen und hellen Augen wurden von dichten Wimpern geschützt. Trotz des weichen Mundes verlieh das Gleichmaß der Züge dem Gesicht etwas Beunruhigendes und Unwirkliches, die Strenge einer antiken Skulptur aus archaischer Zeit.

Da sie um die Auffälligkeit ihres Gesichts wusste, hatte sie schon vor Jahren Unterricht bei einer berühmten japanischen Schminkmeisterin genommen und gelernt, ihr Aussehen durch besonders sorgfältiges Schminken und geschickte Auswahl ihrer Kleidung zu verändern und zu verwandeln. So konnte sie unauffällig in einer Menge untertauchen, sie konnte sich aber auch mit müheloser Eleganz für jeden Mann als unerreichbares erotisches Versprechen inszenieren.

Medea hatte eine Ausbildung zur Chemikerin, Medizinerin und Mikrochirurgin durchlaufen. Im Anschluss daran hatte sie eine Stelle in einem Zentrum für Mikrochirurgie angenommen, wo ihr aufgrund ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten im Alter von siebenundzwanzig Jahren eine Professur angeboten wurde. Zu ihrem Leidwesen ereilte sie jedoch zu diesem Zeitpunkt der Ruf der Familie, das Schiff zu übernehmen, und widerstrebend beugte sie sich der Tradition. Ihre Leidenschaft für die Mikrochirurgie hatte sie jedoch nicht aufgegeben und zwischendurch freiberuflich gut bezahlte Eingriffe ausgeführt. Verschiedentlich hatte sie ihre Fähigkeiten auch an sich selbst und ihrer Schiffsmannschaft eingesetzt. So besaßen alle Frauen zur schnellen und für Fremde nicht hörbaren Verständigung einen im Ohr implantierten Mikrochip, der seine Energie aus den Körperbewegungen der Trägerin erhielt. Fast noch umfassender als ihre chirurgischen Kenntnisse war freilich ihr Wissen über Gifte und ihre Beschaffung.

Inzwischen hatte sie die Instrumente mit der Absicht weggepackt, die Kombüse ihrer eigentlichen Zweckbestimmung, nämlich der des Kochens, zuzuführen. Da kein Smutje an Bord war, hatten sich die Frauen darauf geeinigt, abwechselnd zu kochen, wobei jede der Frauen entsprechend ihrer Herkunft bestimmte Vorlieben besaß. Medea stand noch unschlüssig vor der Kühltruhe, als sie plötzlich Solveigs Stimme in ihrem Ohr vernahm: „An der Küste hat ein Schiff abgelegt. Wenn es seine Richtung und die Geschwindigkeit beibehält, wird es in einer Stunde unsere Route kreuzen.“

Auch die anderen Frauen auf der Jacht hatten die Nachricht gehört, und Bodishia forderte sogleich über den Avatar ein Satellitenbild der Küste an, ließ es vergrößern und das Schiff mit der Datenbank abgleichen.

„Es handelt sich“, sagte der Avatar, „zweifelsfrei um ein Polizeischiff der Islamisch-Sunnitischen Föderation.“

„Auch wenn es ein Polizeischiff auf Patrouille ist“, erwiderte Medea, „weiß man nie, was die Besatzung im Schilde führt oder welchen Anweisungen sie Folge leisten muss. Wir müssen vorsichtig sein und den Kurs des Schiffes im Auge behalten.“

Henry Morgan, der Avatar des Schiffscomputers, war die einzige männliche Person der Besatzung. Die Frauen hatten aus einer Laune heraus entschieden, ihn bevorzugt in der Gestalt eines Seeräubers des achtzehnten Jahrhunderts mit Kopftuch, einem schweren Ohrring und einer Augenklappe auftreten zu lassen. Natürlich war er bei Bedarf in der Lage, eine andere Gestalt anzunehmen. Henry Morgan konnte alle Segel- und Wendemanöver selbständig durchführen und ein eingegebenes Ziel allein ansteuern. Wenn er mit Bodishia Schach spielte, lief im Hintergrund ein Programm zur Verbesserung der Segelmanöver, in dem alle abgreifbaren Daten zur Windstärke, Meeresströmung, Wellenhöhe, Wassertemperatur, Schiffsneigung, Segelfläche und Geschwindigkeit erfasst und analysiert wurden. Der Avatar reagierte nur auf Befehle, die von Medea, Bodishia oder Solveig gegeben und durch ihre Fingerabdrücke bestätigt wurden. Dadurch sollte verhindert werden, dass Seeräuber – falls es ihnen gelingen sollte, das Schiff zu entern – den Schiffscomputer für ihre eigenen Zwecke missbrauchen konnten.

Zur Vorbereitung der Begegnung mit dem ISF-Schiff überprüfte Henry Morgan, ob am Heck die rote Flagge Singapurs aufgezogen war und ob die graue Farbe des Rumpfes sowie das verwaschene Gelb der Segel mit einem blauen Streifen den Fotos entsprachen, die bei der Hafenbehörde Singapurs gespeichert waren. Danach öffnete er im Monitor der Steuerkajüte das Logbuch der Amiramis, ergänzte einige Eintragungen und verwandelte schließlich sein Aussehen in das eines Malaien. Dann vergrößerte er die Segelfläche und nahm Fahrt auf, um zu prüfen, ob das Polizeischiff über die Jacht GPS-Daten abfragte und seine Richtung änderte.

Als sich wenig später alle Frauen in der Kajüte versammelt hatten, meldete der Avatar, das Polizeischiff habe seine Geschwindigkeit erhöht und die Richtung geändert.

„Es ist also offensichtlich“, bemerkte Solveig, „dass es uns abfangen will.“

„Wenn wir unseren Kurs ändern“, ergriff nach einem Augenblick des Schweigens Sanabu das Wort, „können wir ihm ausweichen; unter vollen Segeln sind wir schnell.“

„Wenn wir ihm ausweichen“, antwortete ihr Bodishia, „wird der verantwortliche Offizier alle Zoll- und Polizeischiffe der Föderation benachrichtigen. Dann können wir unsere Waren nicht in Port Kardarez ausliefern. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob wir dem Polizeischiff davonsegeln könnten, es ist ein Tragflächenboot.“

Medea nickte zustimmend und sagte: „Ich habe nachgedacht, wir sollten nichts überstürzen. Wenn sie uns mit der Lässigkeit ihrer Gewohnheit kontrollieren, werden sie die Fracht nicht finden. Und sie haben auch sonst nichts in der Hand, um uns Schwierigkeiten zu machen. Nach den Papieren sind wir eine gecharterte Crew mit dem Auftrag, dieses Schiff zu überführen. Gegen den in den Papieren angegebenen Käufer liegt nichts vor, im Gegenteil, er gilt als Freund der derzeitigen Regierung der ISF.“

„Ich teile deine Auffassung“, schaltete sich Ronit Dahl ein, „selbst wenn der verantwortliche Polizeioffizier ein ehrgeiziger Dummkopf ist, wird ihm der Name des Käufers geläufig sein. Wenn wir ihn nicht provozieren, wird er uns unbehelligt lassen. Ich werde einen Tschador anziehen und eine Muslima sein.“

„Demut zeigen“, fügte Medea hinzu, „ist eine gute Idee. Freie Wahl der Waffen, aber Kopftuchpflicht für alle!“

Da Pokahontas und Li Yuchan keine Meinung hatten, wurde mit Mehrheit beschlossen, die Fahrtrichtung beizubehalten und der kommenden Kontrolle mit dem Prinzip der geöffneten Hände zu begegnen. Nur Sanabu Zuri versetzte: „Die Frage ist doch, warum die Küstenpolizei uns überprüfen will. Hat sie einen Tip bekommen? Ich werde nicht an Bord sein, sondern die Begegnung im Wasser verfolgen.“

„Wir sollten uns hüten“, gab Bodishia zur Antwort, „immer und überall Gefahren und Hinterhalte zu wittern. Sonst werden wir paranoisch. Aber dich für einen Notfall in Reserve zu haben, ist eine gute Idee.“

Das Polizeischiff „Stolz des Islam“ war nicht nur ein schnelles, sondern auch ein mit zwei Kanonen bewaffnetes Tragflächenboot. Als es sich bis auf eine halbe Seemeile genähert hatte, erschien auf dem Nachrichtenmonitor der Jacht die Aufforderung, die Segel zu reffen und die Fahrt zu stoppen. Li Yuchan, die den Mast erstiegen hatte, überprüfte das Schiff, konnte aber nichts Verdächtiges feststellen. „Die Männer“, meldete sie ihren Gefährtinnen, „tragen die in der ISF übliche Bekleidung der Zollbeamten. Sie haben die Geschützstationen besetzt. Wenn wir nicht beidrehen, können sie uns zusammenschießen.“

So glitt der „Stolz des Islam“ von achtern an der Steuerbordseite der Amiramis heran und machte an ihr fest. Ein Polizeioffizier und vier Männer kamen über eine Enterbrücke an Bord. In dem Augenblick, in dem die Männer das Deck der Jacht betraten und Medea nur auf das Gesicht des Polizeioffiziers achtete, schrie Ronit Dahl auf: „Verdammt, wir wurden hereingelegt! Seht euch die Füße an. Einige sind barfuß, andere tragen Turnschuhe, das sind Piraten!“

Doch es war schon zu spät. Die Männer hatten Maschinenpistolen aus ihren Umhängen gezogen und trieben die Frauen auf dem Vordeck zusammen. In schlechtem Englisch sagte der Anführer zu den Frauen: „Eine Bewegung und wir schießen alle über den Haufen!“

Dann gab er in einem malaiisch-arabischen Dialekt, den von den Frauen nur Ronit und Sanabu bruchstückhaft verstanden, einem seiner Männer den Befehl, nach unten zu steigen und die Kajüten zu durchsuchen. Als der wieder auftauchte und versicherte, keine weiteren Personen seien an Bord, ließ der Anführer die sechs Frauen einzeln vortreten und mit Handschellen fesseln. Danach wurden sie in den fensterlosen Raum mittschiffs gebracht und eingeschlossen. Nur die Frau im Tschador wurde in die Steuerkajüte geführt, damit sie dem Mann, der das Steuer übernahm, Auskunft über Funktionen des Armaturenstandes geben konnte. Der Offizier und die restlichen Männer gingen von Bord.

Nach kurzer Zeit nahm der „Stolz des Islam“ mit der Amiramis im Schlepp Fahrt auf.

 

2

Das Auge von London

 

World News, 12. Sept. 2100: Der Jahrestag der Zerstörung der Zwillingstürme des Welthandelszentrums in Manhattan war einer der ruhigsten Tages dieses Jahres. Sogar an den bekannten Brennpunkten der Gewalt gab es keine Selbstmordattentate, keine Angriffe mit Viren oder schmutzigen Bomben. Die Sprecher der Sicherheitsorgane sehen darin einen Erfolg ihrer verstärkten Überwachungsmaßnahmen.

 

Die Schlange, die sich am Vormittag vor dem Riesenrad am Ufer der Themse gebildet hatte und unter wolkenlosem Himmel auf die Öffnung des Zugangs wartete, war noch nicht sehr groß und bestand hauptsächlich aus zwei Schulklassen, als sich nach und nach acht Männer anstellten. Sie waren europäisch gekleidet und glatt rasiert. Für den Beamten, der ab und zu einen Blick auf die Monitore der Kameras warf, die den Platz vor dem Riesenrad überwachten, waren sie unauffällige Erwachsene, wie man sie in London an jeder Ecke traf; vielleicht waren sie Besucher aus einer anderen englischen Stadt oder aus dem europäischen Ausland, einige hätten auch aus dem Mittelmeerraum oder aus Vorderasien stammen können. Sie redeten sich mit geläufigen Vornamen wie Harry oder Andrew an, während sie in Zweiergruppen geduldig in der Schlange warteten und einigen Müttern mit Kindern den Vortritt ließen, um eine Kabine für sich zu haben. Sobald sie in der Kabine des Riesenrads Platz genommen hatten …

 

3

F 217

 

Nach langen Debatten wurden in der zweiten Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts von einigen Staaten die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen, um die Errichtung und das Betreiben von Organspenderfarmen zu legalisieren. Auf diesen Farmen werden Menschen zu dem alleinigen Zweck gezüchtet, als Organspender zu dienen. Neben den staatlich autorisierten Farmen existieren in anderen Ländern privatwirtschaftlich geführte Betriebe, die nicht oder nur lasch kontrolliert werden … Aus: Roberta Gregorian: Kleiner Abriss der Genetik. Helsinki 2099.

 

Wenn Solveig Solness an ihre frühe Kindheit dachte, sah sie den Direktor vor sich und hörte ihn mit kalter Stimme sagen, ihre Erinnerungen seien Wunschvorstellungen, sie habe keine Eltern, er rate ihr nachdrücklich, mit niemandem über diese Hirngespinste zu reden. Wenn sie aber das Gesicht des Direktors wie einen Vorhang zur Seite schob, sah sie in einer Erinnerung, die sie für ihre erste hielt, ihre Eltern in einem Garten vor sich. Sie selbst spielte auf einer Wiese, in einiger Entfernung standen zwei Erwachsene beisammen, ein Mann und eine Frau. Beide waren schlank und großgewachsen. Sie lief auf sie zu, der Mann war ihr Papa, er breitete seine Arme aus, fing sie auf und setzte sie auf seine Schultern. Er war jetzt ihr Pferd. Sie hielt sich mit ihren Händen an seiner Stirn fest und sah sich um. Der Garten lag an einem Hang, in der Ferne sah man Wasser, einen See, vielleicht auch die Bucht eines Meeres, vom Gefühl her – wenn sie später an die Erinnerung dachte – eher eine Bucht oder ein Meeresarm. Auf der anderen Seite des Wassers zog sich eine blaugraue Bergkette hin, der höchste Gipfel war mit Schnee bedeckt. Am unteren Ende der Wiese standen mehrere Bäume, im Geäst eines Baumes war ein Vogelnest zu erkennen. An einem kräftigen Ast dieses Baumes hing eine Schaukel, zwischen zwei anderen Bäumen war eine Hängematte gespannt. Unter der Hängematte lief im Halbschatten ein Vogel mit einem langen gebogenen Schnabel am Boden hin und her, hielt an, pickte und lief weiter. Hangaufwärts lag das Haus, es war zweistöckig und hatte ein hohes Dach. Mehrere Fenster waren geöffnet, und Solveig sah, wie sich die Vorhänge im Wind leicht bewegten. Seitwärts des Hauses erstreckte sich ein Gewächshaus, dahinter erhob sich ein Bergrücken, dessen Hang teilweise aus rötlichen Felsen bestand. Während ihr Vater als Pferd einige Schritte durch den Garten trabte, waren zwischen dem Bergrücken und dem Wasser noch andere Häuser zu sehen, sie verteilten sich als kleine weiße und rote Punkte im Grün der Wiesen und Baumgruppen. An eine Stadt in ihrem Blickfeld hatte sie keine Erinnerung, aber an Segelboote auf dem leicht gekräuselten Wasser. Ihre Eltern sprachen miteinander. Ihre Mutter lächelte ihr zu. Plötzlich verschwand das Lächeln, ihre Mutter griff sich an die Brust, machte ein paar Schritte und setzte sich auf einen Gartenstuhl. Dann sackte sie zusammen. In diesem Moment erschien eine Person in der Tür des Hauses, die ihr Vater jedoch nicht beachtete. Hastig setzte er seine Tochter ab und griff in eine Jackentasche. Er holte eine kleine Spritze heraus und drückte sie seiner Frau in die Armbeuge. Dabei sagte er zu seiner Tochter: „Mama ist krank. Aber du hilfst ihr, gesund zu werden.“ „Wie helfe ich ihr?“ „Mit deinem Blut.“

In einer anderen Erinnerung war sie auf der Suche nach ihrer Mutter und öffnete die Tür zu einem Zimmer, in dem sich ihre Mutter oft aufhielt. Das Zimmer war jedoch leer, Solveig trat ein und blickte sich um. Auf einem niedrigen Tisch lagen neben einem Buch kleine, unregelmäßig geformte Steine, die auf einigen Seiten Vertiefungen und auf anderen Seiten Ausbuchtungen oder Höcker besaßen. Neugierig trat Solveig an den Tisch und nahm einige der Steine in die Hand, wobei sie bemerkte, dass sie aus Holz waren und sich warm anfühlten. Einer der Steine war wesentlich größer als die anderen. Solveig drehte und wendete ihn und stellte ihn anschließend mit seiner größten Fläche auf den Tisch. Jetzt nahm sie andere Teile in die Hand und versuchte, zwei so zusammenzustecken, dass der Höcker eines Steins in die Ausbuchtung eines anderen passte und dass die Kanten nicht voneinander abwichen oder überstanden. Nachdem sie einige passend zusammengesteckt hatte, suchte sie nach den beiden Steinen, die zu dem großen Stein passten. Sie fand sie, fügte sie zusammen und stellte fest, dass die drei Steine den Beginn eines Bogens zu bilden schienen. Ah, das ist ein Spiel, dachte sie und fügte mit zunehmender Begeisterung einen Stein an den nächsten, bis eine merkwürdige Figur entstanden war, eine Acht, die in sich gedreht war. Als sie das Zimmer wieder verlassen wollte, kam ihre Mutter herein. Solveig lief auf sie zu und rief: „Mama, Mama! Du hast ein schönes Spiel.“

„Welches Spiel meinst du denn?“

„Das Spiel mit den Steinen, die man zusammenfügen kann.“

Erst jetzt bemerkte ihre Mutter die zusammengesetzte Figur, sah ihre Tochter voller Staunen an und fragte: „Hat dir Papa dabei geholfen?“

„Nein, ich war allein im Zimmer. Aber es war ganz einfach. Die Steine sind nämlich unterschiedlich schwer, die schwersten kommen unten hin, die leichten oben.“

„Na, das wollen wir Papa erzählen“, antwortete ihre Mutter, nahm Solveig bei der Hand und ging mit ihr auf die Suche. Als sie ihren Mann im Gewächshaus gefunden hatte, sagte sie: „Stell dir vor, Solveig hat das Möbius’sche Band zusammengesetzt – ohne irgendeine Hilfe.“

Ein anderes Mal saß ihre Mutter vor dem niedrigen Tisch und sagte zu ihr: „Wir wollen jetzt gemeinsam ein Spiel spielen. Unter diesem Tuch liegen einige Gegenstände. Wenn ich das Tuch wegziehe, darfst du dir die Sachen ansehen. Dann bedecke ich sie wieder, und du sagst mir, woran du dich erinnerst. Magst du dieses Spiel spielen?“

Solveig nickte und sagte: „Ja gern, Mama.“

Noch als Erwachsene erinnerte sie sich, woran sie sich damals erinnerte hatte: an eine silberne Münze, eine rötliche Münze mit einem Loch in der Mitte, einen weißen Knopf, einen Ring, einen Ring mit einem Stein, ein Armband, eine Glaskugel, einen Würfel, eine weiße und eine schwarze Schachfigur, eine Spielkarte, einen grauen Stein, ein braunrotes Blatt, ein gestreiftes Schneckenhaus, ein kleines Messer, eine Pinzette, eine Batterie und eine Patrone.

„Toll hast du das gemacht“, sagte ihre Mutter, nachdem sie die Gegenstände genannt hatte, „von zwanzig Dingen hast du dich an achtzehn erinnert.“

„Was ist der Unterschied zwischen achtzehn und zwanzig?“

So hatte sie im Alter von drei Jahren Zahlen kennengelernt, erst die von eins bis zwanzig, dann sogar bis fünfzig. Als ihre Eltern sahen, wie leicht ihr das Lernen fiel, sagte ihr Vater eines Abends zu ihr: „Die Kette, die du um den Hals trägst, hast du zu deinem dritten Geburtstag erhalten. Teil der Kette ist eine kleine Scheibe, die die Form einer Muschel hat. Obwohl die Scheibe ganz dünn ist, besteht sie aus zwei Hälften. Auf den Innenseiten sind dein Geburtstag, deine beiden Vornamen und unser Familienname eingraviert. Wenn du groß bist, wirst du herausfinden, wie sich die Muschel öffnen lässt. Ich habe dir auf diesem Blatt aufgeschrieben, was in der Muschel steht. Siehst du die Schrift?“

Als sie nickte, gab er ihr den Zettel und fuhr fort: „Wenn du dir die Schrift mit deinem Namen einprägst, kennst du schon neun Buchstaben. Wenn du willst, kannst du versuchen, die Buchstaben mit einem Stift abzumalen.“

„Wann wurde ich geboren, Papa?“

„Am 4. Juli 2077.“

Einige Zeit später traf Solveig ihren Vater in seinem Arbeitszimmer an. Er saß an seinem Tisch vor einem Bildschirm und schrieb. Als er seine Tochter erblickte, nahm er sie auf den Schoß, zeigte ihr die in der Tischplatte eingelassene Tastaturfolie und sagte: „Siehst du die weißen Buchstaben auf den schwarzen Feldern? Wenn du die Buchstaben erkennst, die du für deinen Namen brauchst, dann drücke sie kurz nach unten.“

„Da ist das S. Darf ich drücken?“

Er nickte. So drückte sie nacheinander die Buchstaben ihres Rufnamens, vergaß aber das g, weil es nicht gesprochen wurde. Als sie danach auch die Buchstaben des Familiennamens in der richtigen Reihenfolge drückte, lobte ihr Vater sie sehr und zeigte ihr, wie man das Geburtsdatum eingab.

„Wenn du größer bist und richtig lesen und schreiben kannst“, sagte er zum Abschluss, „wirst du oft vor einem Bildschirm sitzen und eine Tastatur oder ein Mikrophon benutzen, um etwas aufzuschreiben. Das Wichtigste an diesem Gerät ist ein kleiner Speicher, in dem man Wörter, Zahlen, Bilder und Musik aufbewahren kann. Auf viele Fragen, die du einmal haben wirst, kannst du die Antworten in dem Speicher finden. Du musst nur wissen, mit welchem Schlüsselwort du die Auskünfte auffinden kannst."

In ihrer letzten Erinnerung war es Nacht. Sie erwachte vom Geräusch eines Schusses. Schlaftrunken begann sie, nach ihrer Mama zu rufen. Doch statt ihrer Mutter kamen zwei Männer in ihr Zimmer, zerrten sie aus dem Bett und brachten sie fort. Ihre Eltern hat sie nie mehr gesehen. Wenn sie später an diese Nacht dachte, erinnerte sie sich nur an eine lange Fahrt in einem Lastwagen.

Nach jener Nacht lebte sie in einer Einrichtung, die das Camp genannt wurde. Sie hatte kein eigenes Schlafzimmer mehr, sondern schlief in einem Schlafsaal, in dem vierundzwanzig Betten in vier Reihen aufgestellt waren. In dem Schlafsaal schliefen nur Mädchen. In einem anderen Schlafsaal schliefen vierundzwanzig Jungen. Tagsüber waren alle Kinder beisammen. Sie standen zur selben Zeit auf, sie aßen zusammen, wurden zusammen unterrichtet und trieben zusammen Sport. Die Kinder durften sich nicht mit einem Vornamen anreden, sondern mit den Nummern, die sie erhalten hatten und die sichtbar auf ihre Kleidungsstücke genäht waren. Solveig hieß F 217. Alle Mädchen hatten den Buchstaben F vor ihrer Nummer, alle Knaben den Buchstaben M. Als Solveig von den Aufsichtspersonen angehalten wurde, von sich nur mit der Bezeichnung F 217 zu reden, beharrte sie zu zunächst darauf, sie heiße Solveig Solness. Aber nach mehrtägigem Essensentzug und Unterbringung in einer Zelle ohne Fenster und ohne Licht gab das kleine Mädchen ihren Widerstand auf. Als sie die anderen Kinder näher kennenlernte und mit ihnen sprach, musste sie feststellen, dass die überwiegende Zahl keine Vornamen kannte und sich nicht daran erinnerte, jemals einen Vornamen gehabt zu haben. Sie kannten nur die Zahlen, mit denen sie angeredet wurden und mit denen sie sich meldeten: F 198, F 207, M 546, M 560 usw. Nur ein anderes Mädchen und drei Jungen gaben in geflüsterten Gesprächen zu, einmal einen Namen gehabt zu haben, den sie aus Angst nicht auszusprechen wagten.

Auch die Erzieher und Lehrer hatten keine Namen, sondern wurden mit dem Buchstaben T und einer anschließenden Zahl angesprochen. Nur der Direktor trug kein Zahlenschildchen und hieß der Direktor.

Vom Tagesablauf der ersten beiden Jahre im Camp besaß Solveig nur noch eine schwache Erinnerung an Schwimmkurse, Labyrinthspiele und Leseunterricht. Später war der Tagesablauf immer gleich: Der Tag begann nach dem Wecken um 6.30 mit einer halben Stunde Gymnastik und anschließendem Schwimmen. Danach wurde ein wachstumförderndes und muskelbildendes Frühstück eingenommen. Der Unterricht begann um 8.00 und dauerte bis zum Mittag. Die Kinder erhielten Unterricht in Spanisch, ab dem dritten Schuljahr zusätzlich in Russisch und ab dem sechsten in Chinesisch. Der Wortschatz, den sie in den Fremdsprachen übten, war ein Alltagswortschatz; literarische Texte lasen sie nicht. Sie erhielten zunächst keinen Unterricht in Geschichte oder Geographie. Sie erfuhren nichts von Erdteilen, Ländern, Völkern und ihrer politischen oder religiösen Geschichte. Stattdessen wurden sie in Biologie, Chemie, Physik, Mathematik und Teilen der Medizin unterrichtet. Außerdem mussten sie ein Musikinstrument erlernen, wobei sie zwischen dem Klavier und einem Holzblasinstrument wählen konnten.

Nach dem Mittagessen und einer Freistunde begann ein dreistündiger Sportunterricht. Die eine Hälfte bestand aus einem Ausdauertraining, in der anderen Hälfte wurden Kampfsportarten geübt. Das Abendessen wurde um 18.30 eingenommen, um 20.00 war Bettzeit, und fünfzehn Minuten später wurde das Licht gelöscht.

Nach acht Tagen Schulunterricht verbrachten die Kinder immer zwei Tage im Freien. Das Gelände außerhalb der Gebäude war hügelig und bewaldet. Unter der Führung von zwei Lehrern marschierten die Kinder nach dem Frühstück los. Etwa zwei Stunden später bestimmten die Führer eine Waldlichtung oder eine Wiese am Waldrand als Lagerplatz. Danach mussten die Kinder Zelte aufschlagen und ein Feuer entfachen, auf dem das Essen gekocht wurde.

In den späteren Jahren, als Solveig zehn geworden war, durften die Kinder keine Zelte mehr mitnehmen, sie mussten sich ihre Schlafstelle im Freien einrichten – auch wenn es regnete oder manchmal schneite. Im Lauf der Jahre wurde an den Tagen im Wald auch die Versorgung mit Nahrungsmitteln reduziert. Als Solveig zwölf war, mussten die Kinder ihre Nahrung im Wald suchen, Suppen aus Blättern oder Baumrinde bereiten, Fallen aufstellen oder versuchen, Tiere mit Pfeil und Bogen zu erlegen. Trotz dieser Einschränkungen fieberten die Kinder den beiden Tagen im Freien entgegen, weil diese Tage die einzige Unterbrechung der sonstigen Monotonie des Tagesablaufs und der strengen Kontrolle, der sie in der Schule unterworfen waren, bildeten.

An diesen Tagen im Wald konnten die Kinder jedoch nicht nach Lust und Laune herumschweifen, sondern sie erhielten Aufgaben, die sie entweder in Gruppen, paarweise oder allein lösen mussten. Manchmal wurden die Gruppen und Paare von den Führern eingeteilt, manchmal durften die Kinder ihre Gruppen selbst zusammenstellen. Die Führer beobachteten genau, welche Kinder einander wählten, sich zu Gruppen zusammenschlossen oder Paare bildeten, und stellten daher mitunter Gruppen zusammen, in denen Spannungen entstehen mussten, die die Durchführung der Aufgaben erschwerten und anderen Gruppen Vorteile verschafften. So wurde über jedes Kind ein Dossier angelegt, in dem über die Jahre festgehalten wurde, ob es einen durchsetzungsstarken Willen besaß oder ein Mitläufer oder ein Außenseiter war.

Die Spiele waren zunächst Versteck- und Suchspiele oder Schnitzeljagden, manchmal waren es Kampfspiele. Die Sieger erhielten keinen besonderen Preis, aber die Verlierer mussten den Siegern in den folgenden acht Tagen Dienste erweisen, die Betten machen, die Wäsche waschen, die Waschräume putzen und das Geschirr nach den Mahlzeiten abtragen. Im Lauf der Jahre wurden die Kampfspiele gewalttätiger. Die Parteien, die sich bekriegten, erhielten die Erlaubnis, Gefangene zu machen, die Gefangenen zu fesseln und im Wald liegen zu lassen. Als Solveig dreizehn war, wurden Gewehre ausgegeben, mit denen Hartgummikugeln verschossen werden konnten. Wurde ein Kind getroffen, galt es als tot und musste ausscheiden. Da die Kinder Bekleidung trugen, die mit kleinen Sendern ausgerüstet waren, wurden die Führer über jeden Treffer informiert.

Das Gebäude, in dem Solveig und die anderen siebenundvierzig Kinder lebten, bestand aus vier Flügeln, die um ein größeres Haus gruppiert waren. In dem zentralen Gebäude befanden sich auf verschiedenen Stockwerken der Speisesaal mit der Küche, die Turnhalle und die Schwimmhalle. Die Kinder hatten ihre Schlafsäle und Aufenthaltsräume in einem der Flügel. Die anderen drei Flügel standen leer.

Während einer Fragestunde mit dem Direktor und den Lehrern stellte Solveig die Frage, wozu die anderen Häuser daseien.

„Ich habe eine Frage“, sagte Solveig.

Fragen durften nur in der Fragestunde und in der Anwesenheit aller Kinder gestellt werden.

„Welche Frage hast du, F 217?“ antwortete der Direktor.

„Wozu sind die leeren Räume da?“

Der Direktor blickte die anwesenden Lehrer an, zögerte einen Augenblick und sagte dann: „Ihr seid die ersten. Im nächsten Jahr kommt eine neue Gruppe, die zieht in den zweiten Flügel, jedes Jahr kommt eine weitere Gruppe, in drei Jahren werden alle Räume bewohnt sein.“

Solveig meldete sich. Der Direktor sah sie an: „Hast du noch eine Frage, F 217?“

„Ja, ich habe noch eine Frage. Was geschieht mit uns im fünften Jahr?“

Der Direktor machte sich eine Notiz, dann blickte er auf und sagte: „Im vierten Jahr bauen wir ein neues Gebäude für vier weitere Jahrgänge. Ihr bleibt in eurem Gebäude wohnen.“

Neben dem Direktor und den Lehrern gab es noch eine Gruppe Erwachsener. Ihre Bezeichnung begann mit dem Buchstaben S. Die meisten S-Personen waren Frauen, die die Mahlzeiten zubereiteten oder bei Verletzungen und Erkrankungen Dienste verrichteten. Die S-Frauen waren bei den Kindern sehr beliebt, zum einen, weil das Essen im Gegensatz zur Monotonie des Tagesablaufs sehr abwechslungsreich und schmackhaft war, zum anderen, weil die S-Frauen sehr sanft und umgänglich waren und für viele Kinder zu einer Art Mutterersatz wurden. Auch Solveig hatte mit einer der S-Frauen Freundschaft geschlossen. S 483 war Anfang zwanzig, hatte dunkle Haare und eine sehr blasse Hautfarbe. Der enge Kontakt zwischen ihr und Solveig war entstanden, als das kleine Mädchen nach zwei regnerischen Waldtagen hohes Fieber bekommen hatte, aus dem sich eine Lungenentzündung entwickelte. Solveig wurde in die Krankenstation verlegt, wo sie eine Woche bleiben musste und von S 483 gepflegt wurde.

Nachdem Solveig Zutrauen zu ihrer Pflegerin gefasst hatte, fragte sie sie am Ende der Woche, ob sie ein Geheimnis wahren könne. Als S 483 ihr versprach, jedes Geheimnis, das man ihr anvertraue, für sich zu behalten, erklärte Solveig, dass sie einen richtigen Namen habe und sich daran erinnere, Solveig Synnöve Solness zu heißen. Die Pflegerin sah sie kurz prüfend an und antwortete, sie habe davon gehört, dass einige Kinder des ersten Jahrgangs von draußen stammten. Sie erwartete jetzt, dass F 217 die Frage stellen würde, warum sie und die anderen Kinder in dem Camp seien. Doch stattdessen sagte Solveig: „Hast du auch einen richtigen Namen?“

„Nein“, sagte S 483 mit leiser Stimme, „ich habe keine Eltern und habe daher auch keinen Namen erhalten.“

„Wie bist du ohne Eltern auf die Welt gekommen?“

„Ich bin das, was man einen Klon nennt, ich bin künstlich entstanden.“

„Bist du ein Roboter?“

„Nein, ich bin aus Fleisch und Blut wie du. Ich wurde erschaffen, um mein Leben als Organspender zu verbringen. Eines Tages werde ich eine Niere, ein Auge oder eine Hand spenden. Später werde ich meine Lunge oder mein Herz spenden. Danach werde ich sterben.“

„Wem wirst du deine Organe geben? Den Lehrern oder den Kindern?“

„Das ist nicht vorgesehen. Ich werde sie Menschen geben, die draußen leben – außerhalb des Camps.“

Zu diesem Zeitpunkt hatte Solveig bereits die Mauer gesehen und wusste, dass sie das Camp ohne Hilfe nicht würde verlassen können.

Einige der S-Personen waren Männer, teilweise waren sie Aufsichtspersonen, teilweise Ärzte. Im ersten Jahr lebten vier Ärzte in dem Camp. Mit jedem neuen Jahrgang von Kindern wuchs auch die Zahl der Ärzte. Alle drei Monate wurden die Kinder von einem Arzt untersucht. Der Arzt prüfte nicht nur den allgemeinen Gesundheitszustand, sondern auch in unregelmäßigen Abständen und nach einem für die Kinder undurchschaubaren Plan Leistungsfähigkeiten, zum Beispiel die Reaktionszeit und das Erinnerungsvermögen oder Problemlösefähigkeiten und das Entscheidungsverhalten in Spielsituationen wie dem Gefangenendilemma. Manchmal wurden die Kinder nach einer Untersuchung in Narkose versetzt, und danach wurden operative Eingriffe vorgenommen, von denen sie nichts mitbekamen und über die sie nicht unterrichtet wurden.

Die Ärzte waren zu den Kindern stets freundlich und zogen die Untersuchungen als ein Spiel auf, um das Vertrauen der Kinder zu gewinnen. Manche Kinder lehnten sich im Lauf der Zeit so sehr an ihren Arzt an, dass sie ihm ihre geheimsten Gedanken und Wünsche offenbarten. Solveig fasste jedoch nie zu einem der Ärzte das Vertrauen, das sie S 483 gegenüber hegte, und benutzte nie einen der Ärzte als Beichtvater. Selbst, wenn sie einmal sehr verzweifelt war und ihrer Not Worte geben wollte, verschloss sie sich, indem sie die Erinnerung an ihre Eltern zurückrief. Saß sie dann dem Arzt gegenüber, überlegte sie, ob er draußen ein Mensch mit einem Namen und Eltern gewesen war oder wie die Organspenderinnen geklont war. Sie hat es nie herausgefunden.

Solveig war acht, als sie an einem der Waldtage die Mauer entdeckte. Die Führer hatten am Vortag erst nach einem fast vierstündigen Marsch einen Platz zum Übernachten festgelegt und den Kindern nach dem Aufbau der Zelte leichte Einzelaufgaben gegeben. Schon während des Marsches war den Kindern bei ihren Führern, deren Verhalten sie gut kannten, eine gewisse Gleichgültigkeit und Lustlosigkeit aufgefallen. Es war offenkundig, dass sie mit einem Problem beschäftigt waren und darüber miteinander ohne Zuhörer reden wollten. Als am nächsten Morgen die Einteilung in Gruppen für einen Wettkampf unterblieb und die Kinder ohne Aufgaben in den Vormittag entlassen wurden, überkam Solveig die Idee, ihre Eltern zu suchen und zu fliehen. So sonderte sie sich ab und ging in den Wald hinein. Es war ein milder Herbsttag – die Bäume hatten schon zum Teil ihre Blätter verloren –, und sich am Stand der Sonne orientierend schlug Solveig eine Richtung ein, mit der sie sich ihrer Meinung nach von dem Gebäude entfernte. Nach einiger Zeit, es mochte eine Stunde vergangen sein, kam sie an einen Bach, den sie überqueren musste, wenn sie ihre Richtung beibehalten wollte. Einen Augenblick lang war das kleine Mädchen versucht, dem plätschernden Bach zu folgen, doch dann besann sie sich und watete durch das Wasser. In gerader Richtung ging sie weiter, Buschwerk und lichter Wald wechselten sich ab, bis zwischen den Bäumen in einiger Entfernung ein hoher Berg zu sehen war. Mit einem Mal war der Wald zu Ende, und vor ihren Augen lag eine steinige Ebene, hinter der sich der Berg erhob. Seine Flanke hügelte sich jedoch nicht sanft in die Höhe, die Flanke des Berges war von Menschenhand bearbeitet und abgegraben worden. Lotrecht und glatt erhob sich grauer Fels vielleicht fünfzig Meter oder mehr, bevor der natürlich entstandene Berghang einsetzte. Solveig blickte nach rechts und links, ohne ein Ende der Felswand erkennen zu können. Nach kurzem Zögern wandte sie sich nach links und folgte dem Waldrand. Nachdem sie etwa eine halbe Stunde gegangen war, verlor die Felswand an Höhe und wurde schließlich von einer hohen Mauer abgelöst, die sich bis zum Horizont erstreckte. Auf der Mauerkrone waren in Abständen kleine Rohre, die an einem Ende eine Glasscheibe besaßen, montiert. Solveig wusste nicht, dass es sich dabei um Überwachungskameras handelte, aber sie erkannte, dass sie die Mauer nicht würde übersteigen können. Enttäuscht und erschöpft setzte sie sich unter einen Baum und begann zu weinen.

Als ihre Tränen versiegt waren und sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, bemerkte sie, dass die Sonne inzwischen sehr hoch stand und dass es fast Mittag sein musste. Vermutlich würden die Führer inzwischen nach ihr suchen. Was würden sie tun, wenn sie sie in der Nähe der Mauer fänden? Vermutlich bestrafen, schoss es ihr durch den Kopf. Daher stand Solveig auf und schlug den Rückweg ein. Zuerst wollte sie, um sich nicht zu verlaufen, am Waldrand bis zu der Stelle gehen, wo sie zum ersten Mal den Berg gesehen hatte. Dann aber dachte sie, es sei klüger, sich möglichst schnell von der Mauer zu entfernen; sie wandte sich nach rechts und drang in den Wald ein. Schließlich erreichte sie den Bach. Als sie ihn überquert hatte, hörte sie Geräusche und Stimmen, die nach ihr riefen. Solveig beantwortete die Rufe und stieß nach kurzer Zeit auf einen der Anführer, der mit einer Gruppe von Kindern nach ihr gesucht hatte.

Mehr mit Besorgnis als mit Zorn in der Stimme fragte der Anführer, wo sie gewesen sei.

„Ich habe mich verlaufen“, antwortete Solveig, „und bin froh, dass ihr mich gefunden habt.“

„Wie weit bist zu gegangen?“

„Ich bin auf einen Bach gestoßen und folgte seinem Lauf talabwärts, dann machte ich Rast und bin wohl eingeschlafen.“

Zu ihrer Überraschung stellte der Anführer keine weiteren Fragen, zu ihrer Überraschung wurde sie nicht bestraft. Einige Zeit später jedoch sagte der Direktor am Ende einer Fragestunde: „Während eurer Tage im Wald werdet ihr irgendwann entdecken, dass eure Welt von einer Mauer umgeben ist und dass ihr diese Mauer nicht übersteigen könnt. Die Mauer ist zu eurem Schutz da. Sie beschützt euch vor dem Draußen. Hat einer von euch die Mauer schon gesehen?“

Niemand meldete sich.

„F 217. Hast du die Mauer schon entdeckt?“

„Nein, Herr Direktor“ antwortete Solveig, „ich habe keine Mauer entdeckt.“

Der Direktor sah ihr in die Augen, bis sie den Blick senkte. Er machte sich eine Notiz und sagte dann zu allen: „Menschen sind neugierig. Je klüger Menschen sind, desto neugieriger sind sie. Sie wollen Rätsel lösen, Grenzen überschreiten und ins Unbekannte vorstoßen. Für euch ist das Draußen jenseits unserer Welt das Unbekannte. Ihr werdet später erfahren, was es mit dem Unbekannten auf sich hat. Aber vorerst müsst ihr auf dieses Wissen verzichten und daran denken, dass ihr hier geschützt seid. Wenn ihr“, schloss der Direktor die Fragestunde ab, „einmal auf die Mauer stoßt, die noch keiner von euch gesehen hat, nähert euch ihr nicht weiter als hundert Schritt. Merkt euch: Haltet mindestens einhundert Schritt Abstand.“

Danach war die Fragestunde beendet, und der Direktor erwähnte die Mauer in den folgenden Jahren nicht mehr.

Im Lauf der Jahre stieß Solveig in jeder Himmelsrichtung irgendwann einmal auf die Mauer, und als sie zehn Jahre alt war, wusste sie, dass das Camp tatsächlich vollständig von einer Mauer oder von unüberwindbaren natürlichen Hindernissen eingeschlossen war. Sie wusste, dass die grauen Röhren Überwachungskameras waren und dass die Aufnahmen der Kameras in eine Überwachungszentrale gesendet und dort gespeichert wurden. Außerdem wusste sie, dass es zwei Tunnel gab. Einmal war sie zu der Stelle zurückgekehrt, an der sie zum ersten Mal den Berg gesehen hatte. Dort schlug sie den Weg nach rechts ein. Nachdem sie etwa zwei Stunden am Waldrand entlang beständig bergauf gegangen war, vernahm sie ein Geräusch von rauschendem Wasser, das immer lauter wurde, je weiter sie kam. Schließlich sah sie einen Wasserfall. Aus einer Höhe von vielleicht einhundert Metern schoss das Wasser aus dem Berg hervor und stürzte sich in die Tiefe. Am Fuß des Wasserfalls hatte sich ein kleiner See gebildet, aus dem ein Fluss entsprang, der im oberen Teil ziemlich reißend war und mit seinen Strudeln und Wirbeln eine Überquerung unmöglich machte. Jetzt wusste Solveig, aus welcher Quelle sich der große See speiste, der fast am entgegengesetzten Ende des Camps lag. Der große See hatte einen Abfluss, dessen Wasser in einer Felshöhle verschwand.

Nachdem die Kinder zum ersten Mal die Waldtage an dem See verbracht hatten, erschien am nächsten Tag der Direktor im Unterricht und hielt eine kurze Ansprache: „Ich bin nur gekommen, um eine Warnung auszusprechen. Vermutlich überlegt ihr jetzt, wo ihr den Abfluss des Sees gesehen habt, ob man schwimmend das Camp verlassen kann. Das ist unmöglich. Bei dem Versuch würdet ihr sterben. Der Tunnel hat eine Länge von zwei Kilometern, bevor er ans Tageslicht kommt. Ein Schwimmer müsste also die Fähigkeit haben, die Strecke, ohne Luft zu holen, bewältigen zu können. Schon das ist einem Menschen nicht gegeben. Gelänge es aber einem, so käme er am Ende des Tunnels an ein Stahlgitter. Dort würde er, da er das Gitter nicht öffnen kann, elendiglich zugrunde gehen. Gelänge es aber einem, das Gitter zu öffnen, so würde er vom Schwall des Wassers in die Tiefe gerissen, denn das Wasser stürzt dort zweihundert Meter tief ins Meer. Würde aber einer den Sturz überleben, käme er doch elendiglich zu Tode, denn weit und breit gibt es keinen Strand, wo er an Land gehen könnte und Nahrung fände. Er würde auch verdursten, denn ihr müsst ihr wissen, dass das Wasser des Meeres salzig ist. Man kann es nicht trinken.“

Wenn Solveig später an das Camp dachte, schätzte sie, dass die Mauer ein nahezu quadratisches Gelände umschloss und dass die Entfernung von dem Wasserfall am Berg bis zu dem Ausgang des Sees etwa fünfzig Kilometer betrug. Was sie immer noch nicht wusste, war, wo das Camp lag und ob es noch existierte.

 

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